?»... Der Verstand war erweckt worden und ging dem blinden Glauben zu Leibe, dem die schlummernde Vernunft, das im Winterschlaf erstarrte Gefühl, nicht zur Seite standen. Der Verstand, den die Flügel nicht über das Irdische tragen, erhob ein Triumpfgeschrei, gebärdete sich üppig und übermütig wie ein Jüngling im Flegelalter …
Das Christentum aber, das viele sterbend glaubten, hat das Leichentuch, in das man es bereits hüllen wollte, abgeworfen und erhebt sich in ewig junger Herrlichkeit. Und gerade die Wissenschaften, mit denen man ihm ins Grab läuten wollte, gerade die haben auf die merkwürdigste Weise Gott verklärt, als einmal die Vernunft auch ihr Wort dazu sprach und das religiöse Gefühl an der lebendigen Anschauung unwillkürlich erwacht war … Das Christentum bleibt ewig das gleiche, aber wie es in jedem Menschen neu geboren wird, so wird es auch neu geboren in jeder Zeit.

Jeremias Gotthelf

 

1.KAPITEL: DIE FRAGE NACH DER REICHWEITE DER VERSÖHNUNG

«Die neuzeitliche europäische Kultur hat Erkenntnis als theoretische, als zweckrationale, als moralische Einsicht unterschieden. Theoretische Einsicht gipfelt im Turm der Wissenschaft, zweckrationale wächst in der Breite der Technik und der Wirtschaft, moralische umfasst die Rationalität progressiver Politik, den Rechtsstaat, die Wahrheitssuche der freien öffentlichen Meinung, die soziale Gerechtigkeit. Keine dieser Pointierungen bietet der affektiven Wahrnehmung dessen, worauf es ankommt, eine Heimat.
Eine solche Heimat war einst die Religion als der Träger der Kultur. Sie wäre, glaube ich, noch immer die einzige Heimat, wenn sie mit dem modernen Bewusstsein versöhnt werden könnte. Die Grösse dieser Aufgabe aber wird, wo man sie überhaupt will, meist unterschätzt. Das moderne Bewusstsein müsste sich dazu nicht weniger radikal weiterentwickeln als die überlieferte Religion». – Die Zeit, Nr.42 vom 10.10.1980, S.34

Das Zitat von C. F. von Weizsäcker formuliert in prägnanter Weise für den heutigen Bildungskontext das Anliegen, für das Troxler in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts inmitten der Auseinandersetzungen um das Werden der modernen Universitäten und Staaten zuerst in fast prophetischem Enthusiasmus, dann immer mehr in ernüchterter Weise gekämpft hat.
So heisst es 1834 im Vorwort zu den Vorlesungen über Philosophie, in welchen «der ..... Versuch erscheint, die Einheit und Ganzheit der geistigen und sittlichen, wie der physischen und psychischen Entwicklung und Erziehung der Menschennatur herzustellen»(P/4):
»Es scheint nämlich, die Menschheit habe die Bildungsstufe erreicht, auf welcher das Christentum nicht, wie jetzt viele in ihrem Irrwahn glauben, ihren übelgegründeten Aufklärungs- und Verbesserunsversuchen Platz machen, sondern der ewige Geist des Evangeliums zur Wahrheit für Gesinnung, Gesittung, für Wissenschaft und Leben der Menschen und Völker werden, Haus und Schule, Kirche und Staat, den geschichtlichen und geselligen Gesamtzustand der Menschheit umschaffen soll.»(P/4)
»Die Hauptsache im Ganzen war uns daher, den ursprünglichen, aber abgebrochenen, den innigen tiefen, darum verborgenen Zusammenhang zwischen Vernunft und Offenbarung, oder besser der Philosophie und den Evangelien im lebendigen, an sich unteilbaren Menschengeiste herzustellen» .… und … «eben so weit entfernt, Vernunft in Weissagung aufgehen, als Religion in Reflexion untergehen zu lassen, erkennen wir nur eine Weisheit, nämlich nur die göttliche, für wahre Weisheit, die menschliche Weisheit aber als eine von ihr untrennbare, zweite Gestalt, oder als Offenbarung der ewigen Weisheit in der Zeit an, und glauben in dieser Beziehung sagen zu können: Da ist ihr Fusstritt, Dort ihre Hütte! »(P/9)

a.) Das Schicksal des romantischen Weisheitsmonismus

Die hier angesprochene göttlich-menschliche Weisheit – Troxlers philosophische Anthropologie – möchte als jenes verletzliche Band zwischen Mensch, Gott und Welt verstanden sein, darin die Zuwendung Gottes zu den Menschen und des Menschen Zuwendung zu seiner Welt untrennbar aufeinander bezogen sind. Es ist Religion von Seiten der Menschen, Religion in ihrer weltzugewandten, denkenden Praxis, die die Offenbarung des göttlichen Wortes inmitten der Gemeinschaft in einer menschenmöglichen Weise zu bewähren sucht. Es werden hier zu den Fusstritten der göttlich-menschlichen Weisheit nicht nur die Spuren, die sie in der Kirche hinterlässt, gezählt. Es sind damit sämtliche Angelegenheiten menschlicher Lebensgestaltung gemeint, öffentliche und private, Kirche, Staat und Schule. Aber ist es in Anbetracht der aller Welt offenbaren Unzulänglichkeit menschlichen Handelns nicht ein Hohn, alle geschichtlichen Spuren menschlichen Handelns als Fusstritte einer göttlich-menschlichen Weisheit anzusehen, welche natürlichermassen auf dem Weg zur Hütte Gottes unterwegs ist? Dieser gerechtfertigten Anfrage gegenüber soll schon an dieser Stelle wenigstens bildhaft die Richtung des diesen Weisheitsmonismus tragenden Grundgedankens von philosophischer und theologischer Seite her angedeutet werden.

Die «zweite Gestalt der göttlichen Weisheit» ist in ihrer Mittlerrolle zur Geschichte und zum Schaffen der Menschen verletzlich; es ist ihr Wesen, dass sie nicht ohne Beteiligung des Menschen sich bekundet, da sie ja die göttlich-menschliche Weisheit ist. Sie will und kann dementsprechend nicht in absoluter Unverfügbarkeit über dem Menschen walten, sondern wendet sich in solchem Vertrauen dem Menschen zu, dass sie einen Teil ihrer Unantastbarkeit aufgibt und das Schicksal mit dem Menschen in hingebender Verbundenheit und doch freilassender Nähe wagt. Sie ist zwar berufen, Offenbarerin und Trägerin des messianischen Waltens auf Erden zu werden, aber sie – oder eigentlich der Mensch, wie ihn Gott zur Sohnschaft beruft – soll und muss in Freiheit, wie einst Maria zu ihrer Befruchtung durch den Geist, sagen können: »Mir geschehe nach deinem Wort!» Als dem eingekerkerten Boethius die Philosophie als eine Offenbarerin des menschgewordenen Wortes erschien, um ihm seine Tröstungen zukommen zu lassen, sieht er ihr Gewand aus »ganz dünnen Fäden, in feiner Arbeit und aus unzerstörbarem Stoff vollendet hergestellt. ... Dies Gewand aber hatten Hände brutaler Menschen zerrissen, und jeder hatte die Teile weggeschleppt, die er vermochte …» Wie Jesus von Nazareth einst den Menschen ausgeliefert war, so scheint es auch seine Zuwendung zu den Seinen zu sein.

Diesem bloss im obigen Sinne eingeschränkten monistischen Weisheitsverständnis galt Troxlers lebenslanges Ringen. Der gesunde Menschenverstand soll darin genauso aufgenommen sein wie auch die religiöse und die wissenschaftliche Erkenntnis. Ein so weit gefasster Weisheitsbegriff versucht jenem des alten und neuen Testamentes in der Gegenwart wieder eine unmittelbare und innovative Stellung inmitten der menschlichen Gemeinschaft offenzuhalten – einer Funktion, die den alten Verheissungen der heiligen Schriften entspricht und welche nach einer notwendigen Sonderung des wissenschaftlichen und religiösen Logos in einem freien und autonomen Weisheitszeugnis des Individuums sich soll bezeugen können.

Für Troxler kann aber die göttlich-menschliche Weisheit von der Seite des Menschen her bloss aus der »reinmenschlichen Basis des Philosophierens hergeleitet werden, … welche schon bei Sokrates und Plato als ein durch Vergessenheit Verlorenes und durch Erinnern wieder zu Findendes, im Mittelalter als ein in Mystik und Scholastik zersetztes, einzig und allein im Urchristentum in ihrer Reinheit und Vollendung als Offenbarung des allein, ewigen, göttlichen Menschengemüths erschienen ist. Die ächte Philosophie ist die Poesie der mit dem Logos des Christentums vereinten Vernunft, daher, als im Grunde der Vernunft selbst begründet, unabhängig von allem Gegebenen, ewig in ihrer Entwicklung, und unendlich in ihrer Anwendung. Sie ist die Offenbarung der nur von Gott und Natur abhängigen und bedingten Selbstständigkeit und Freitätigkeit des menschlichen Geistes. Die erste und höchste der Wissenschaften ist demnach das Sichselbstwissen des Geistes, oder die Selbstinnewerdung des Gemüths, und dies ist der Quell, dem alle Wissenschaften entströmen, und dies das Meer, in welches sie alle zurückfliessen, die Wissenschaft des mittelbaren und unmittelbaren Bewusstseins, oder die Weisheit; und dies der Standpunkt in dem göttlichen Centrum und Akme der menschlichen Natur, dem, nach Christus und seinen Jüngern, die gottbegeisterten Naturphilosophen, von Seite der Mystiker Tauler, Gerson, Höchener und Böhme, von Seite der Wissenschaft Bruno, Spinoza, Malebrance und Leibnitz am nächsten kamen. Die Freiheit und die Ansprüche und Rechte einer, auf diese Weise begründeten Philosophie über Schule, Kirche und Staat, über all das göttlich Menschliche, worauf die Schule und auch der Staat, so gut wie die Kirche, ruhen, sind demnach auch weit grösser, als bisher noch die hellsehendsten und eifrigsten Verehrer und Vertheidiger der Philosophie geahnt hatten, oder auszusprechen wagten.»(L1/19)
Für Troxler hätte sich das Bestreben um dieses Weisheitsverständnis organisch und folgerichtig an das Erbe des Idealismus und der Romantik anschliessen sollen - müssen - können ??? Es «hat die sogenannte Romantik, in welcher nicht bloss Stoff oder Form, sondern das freie schöpferische Innere der alten Classiker wieder zu Tage gebrochen ist, in der neuen, auf einen tiefern lebendigern Grund zurückgehende Art und Weise ihres Produzierens auch der Erziehung für Wissenschaft und Kunst die einzuschlagende Bahn vorgezeichnet. Das Prinzip der Philosophie und der Poesie, und das der Menschenbildung ist eins und dasselbe, und so wenig im Rom und Athen der alten Welt, als im Manchester und London unserer Zeit, zu suchen und zu finden.»(L1/14) Folgerichtig musste die tiefere und lebendigere Art und Weise des Produzierens auch für die Wissenschaft, d.h. für die Logik, geltend gemacht werden: Die grosse Aufgabe, «der Logik ihr Wesen durch die Philosophie, und der Philosophie ihre Form durch die Logik zu geben» will Troxler in Kants Werk beabsichtigt sehen, da in ihm «ein herrlicher Grund, nicht sowohl der Erkenntnis und des Wissens, als der Untersuchung und des Forschens gelegt fand.» Von diesem Grunde aus, «mit welchem Kants System nicht zu verwechseln ist», sieht Troxler die Philosophie der Deutschen hervorgehen, «durch Fichte in ethische Richtung, durch Schelling von der Naturseite, und durch Jakobi in Beziehung auf die ewigen und göttlichen Dinge … und würde in wundersamer Auflösung ihrer bedeutungsvollen Dissonanzen, in einem grossen Accord sich von allen Seiten her fortgebildet haben, der tiefsten Innerlichkeit des Gemüths zu, … Allein die deutsche Philosophie hatte das Missgeschick, mit ihrer Blüthezeit in eine Alles erschütternde, Alles zersetzende und verkehrende Zeitwende zu fallen, … ,wesswegen denn auch das höchste Streben des menschlichen Gemüths, der Erscheinung seines Zieles so nahe, aufgegeben oder vereitelt werden musste.» (L2/288)
«Die Philosophie, wie die Poesie, und wie die Religion, kann nicht dienen, sie muss sterben oder rücksichtslos frei sein; lebend kann sie nur sich selbst gehören. Durch die im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, in Rückwirkung gegen die Ausschweifungen voriger Zeiten unternommenen und selbst wieder ausschweifenden geistlichen und weltlichen Restaurationsversuche einer untergegangenen äusseren Welt ward auch das Innere der ewig fortschreitenden Natur angefeindet, und das Beste und Heiligste, was wieder hätte orientieren und dadurch allein wahrhaft restaurieren können, auch die Philosophie vergiftet, verderbt und zerstört. (L1/15f) «Es erhoben sich unter dieser Constellation in Deutschland aus des vergötterten Mittelalters Abgrund zwei grossartig gespensterhafte Gestalten der Philosophie, oder vielmehr des in einer alten Spaltung derselben begründeten Gegensatzes von Wissen und Glauben. Die Scholastik, das mittelbare Erkennen losgerissen vom unmittelbaren, ward als Spekulation in dem dialektisch-sofistischen Systeme von G.Hegel in Berlin, und die Mystik, das unmittelbare Erkennen in seiner Abgeschiedenheit vom mittelbaren, ward als Mystizismus in der hierarchisch-orthodoxen Doktrin von Franz Baader in München zur Auferstehung gerufen» …, daraufausgehend, «den menschlichen Geist und sein Forschen und Streben wieder in kirchliche und staatsbürgerliche Abhängigkeit zu versetzen, hiermit im eigentlichen Sinne zu vernichten.» (L1/15f) Troxler sieht diese «religiöse und politische Dogmatik der Philosophie» scheitern am Positivismus, am «Voraussetzen von irgend etwas als Positivem, was auch die Philosophie selbst wird, sobald sie sich dem Philosophieren gegenüberstellt. Die Philosophie kann daher eben so wenig äusserlich herrschen, als dienen wollen, denn das Eine, wie das Andere, setzt ein fremdes Gegebensein und einen ausser ihr liegenden Endzweck voraus. Das Voraussetzen findet auch merkwürdiger Weise eben sowohl im Bestreiten als im Behaupten eines Positiven statt, und desswegen ging von jeher die Wissenschaft und alles lebendige und wesentliche Erkennen der Philosophie in Glaubenthum oder Zweifelsucht zu Grunde;..»(L1/17)
Aus dem blossen Verwerfen oder Annehmen eines Positiven sieht Troxler jene Heterodoxien hervorgehen, zu denen er die Revolutionäre des achtzenten als auch die Conterrevolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts zählt.

»Eine unmittelbare Folge davon war, dass eine, die Rolle und den Titel der absoluten und in sich identischen philosophischen Erkenntnis usurpierenden Spekulation in allen Wissenschaften abgeschieden einem krassen Empirismus und Positivismus entgegen trat, und dass dieser gerade in diesem Gegensatz unter dem Namen und der Gestalt von Religion und Politik, von Geschichte und Naturforschung wieder aufleben, und sein freches Haupt aufs Neue übermüthig erheben konnte. Und da alle Wissenschaft in ihrem tiefsten Grunde Philosophie ist, die unter sich entzweite Speculation und Empirie aber die zwei Todesarten der Philosophie sind, so drohte am Ende auch alle wahre Wissenschaft in der Theologie, im Jus, in der Medizin in den zwei von einander geschiedenen Elementen zu ersterben, und das Zeitalter hatte nur supranaturalistische und rationalistische, historische und dogmatische, praktische und theoretische Schulen und Secten. Die Erschütterung und der Zerfall der Philosophie ist auch jederzeit Zerstörung und Auflösung aller menschlichen Wissenschaft.»(L2/288)
»So kreist die Gottergelahrtheit in rationalistischen und supranaturalistischen Wirbeln um Schrift und Wort des Christentums; so die Jurisprudenz … die Naturwissenschaft … und so zersetzt sich endlich die Philosophie selbst als Vernunft ohne Erfahrung und als Erfahrung ohne Vernunft einerseits in Theismus, Mystizismus und Spiritualismus, andererseits in Naturalismus, Pantheismus und Materialismus, bis sie endlich zwischen den Vorder- und Hinterwagen als das fünfte Rad, das unentbehrlichste und überflüssigste Ding von der Welt verlacht und verschmäht wird.»(L2/342)

»An die Stelle des göttlich mythischen Hintergrundes setzte sich nach dem Abfall täuschend oder trügerisch ein menschliches symbolisches Aussenwerk, und dieses, die Einheit, die in der Urheit und Vollendung liegt, usurpativ vertretend und verhüllend, erzeugte dann den Zwiespalt und die Schwankungen um dieses Aussenwerk oder um das sogenannte Gegebene (Positive) von zwei entgegengesetzten Seiten, je nachdem der grund- oder richtungslose Geist in seiner Abstractionsöde und Reflexionswirre dies seiner Bedeutung entleerte Gegebene zu behaupten oder zu verwerfen, als rein göttlich zu verehren oder als bloss menschlich zu behandeln für gut fand.»(L2/341)
Nach dem Sturz, oder noch im Sturze der speculativen Philosophie musste Troxler also erleben, wie die Philosophie selbst wieder in den alten Rationalismus zurückfiel. Er musste sehen, wie man die Philosophie so, in ihrer Untauglichkeit zu jeder Vermittlung «überhaupt für Tod der Eitelkeit und Verwesung heimgefallen erklärte, und ihr Erbe und Gebiet bereits zu zerstückeln, und unter Religion und Staat, Wissenschaft und Kunst auszutheilen begonnen hat. Zu dem Ende ward dann ein Standpunkt ausser der Philosophie gesucht, und nicht bemerkt, dass dieses Suchen selbst auch von einem Standpunkt in der Philosophie ausgehen muss, und dass auch selbst kein Finden eines solchen ausserhalb der Philosophie gefunden werden kann.»(L2/315)

So kehrte auch die Theologie zu ihrem Supranaturalismus zurück und fand sich dabei mit der rationalistischen Philosophie einig in dem allen Positivismus wieder zementierenden Satze: Was in der Erkenntnis über die Vernunft hinaus liegt, das liegt über den Menschen hinaus. Hierin mussten sich die Supranaturalisten und die Rationalisten einig sein, meint Troxler in einer Anmerkung seiner Logik und stellt weiter fest: Sie «wurden aber eben dadurch in ihrer Ansicht und Bestimmung der Offenbarung untrennbar geschieden, weil beiden die Erkenntnis der höheren innern, wohl ausser der Vernunft, aber doch noch inner dem Menschen liegenden göttlichen Natur fehlte, welche wir zuerst in unserer Metaphysik für die Psychologie geltend gemacht und hiemit als ein bisher unbekanntes, doch in der menschlichen Naturtiefe liegendes vermittelndes Prinzip zwischen Superrationalismus und Rationalismus aufgestellt haben. Dieses Prinzip hat dem Rationalismus durch Nachweisung eines im Menschen liegenden Supranaturalismus und dem Supranaturalismus durch einen bis in seinen göttlichen Urgrund erweiterten Naturalismus ein Ende gemacht.»(L2/329) Was also die Philosophie in der Blütezeit des deutschen Idealismus und der Romantik vor allem zu leisten beabsichtigte, aber nur in spekulativer Erhebung über oder dumpfer Empfindung unter das höhere sinnlich-geistige Selbstbewusstsein des Menschen erreichte, wäre nach Troxler die konsequente, anthropologisch-philosophische Vertiefung der Kant'schen Kritik gewesen, welche er selbst vor allem in seiner Logik zu leisten versuchte. Seine Logik mit dem Untertitel: «Die Wissenschaft des Denkens und Kritik aller Erkenntnis» möchte also nicht die Möglichkeiten des menschlichen Erkennens von bereits historisch vorliegenden, positivistisch festgelegten oder rationalistisch vorentschiedenen Ansichten ausgehend nur noch ordnen und in Beziehung setzen. Nicht nur Wissenschaft in engerem Sinne, sondern auch Sinnlichkeit, Affekt, Ästhetik, Poesie, … ja, selbst Religion und deren Offenbarungsgrund im Menschen glaubt Troxler durch vertiefte, nach innen sich wendende Selbstbeobachtung und Selbstkritik im Menschen versöhnen und einen zu können. Troxlers Bemühungen, über die philosophische Anthropologie alle Bereiche des menschlichen Lebens der Wissenschaft, und der Wissenschaft das volle Leben zu vermitteln und zu versöhnen, haben dasselbe Schicksal erlitten, wie manch andere Schule, die den philosophischen, wissenschaftlichen und institutionellen Restaurationstendenzen des Dualismus oder der zwei Kulturen, einer religiösen und einer weltlichen, zu trotzen suchten.


b.) Inhaltsübersicht und Inhaltsabsicht dieser Arbeit

Inzwischen hat sich der Bruch zwischen weltlichem und göttlichem Logos in dem Bewusstsein der Menschen, in der Universität und in der Gesellschaft so verfestigt, dass Wiedergeltendmachung des göttlichen Logos in der Wissenschaft einerseits nur noch als gefährliche Rekonstruktion alter Autoritätssysteme gedacht werden kann oder andererseits im Anschluss an eine nachtheistische Theologie versucht wird: als Geltendmachung der Pneumatologie in dem öffentlichen Wahrheitsdiskurs; – wobei diese zeitgemässe Neuauflage der Pneumatologie sich aber fragen lassen muss, ob sie nicht eher den Geist der «Vernunft» unterwirft, statt jene im Geist zu vertiefen oder zu erweitern. Zum letztgenannten Ansatz möchte ich mich schliesslich als Gesprächspartner gesellen, und – nach einem Durchgang durch die Schule der philosophischen Antropologie Troxlers – mich in dessen Diskurs mit einigen Anfragen und Vorschlägen mischen. (7.Kp)
Wer heute dem Anliegen, die Religion mit dem modernen Bewusstsein zu versöhnen, noch immer Berechtigung und Bedeutung zumisst, ja sogar die Absicht hegt, sich dieses Anliegens anzunehmen, der hat sich allerdings der Warnung v. Weizsäckers, dass die Grösse dieser Aufgabe meist unterschätzt wird, zu stellen – um so mehr, wenn das, wie im Falle meiner Arbeit, durch Besinnung auf einen Philosophen des letzten Jahrhunderts geschehen soll. Kann denn das Mitdenken der philosophischen Bemühungen eines Menschen, der in der noch so andersgearteten Bildungswelt des letzten Jahrhunderts seine Anliegen vertrat, in der heute völlig veränderten Wissenschaftskultur noch etwas beitragen zur Lösung unserer «grossen Aufgabe»? Um in dieser berechtigten Frage weiterzukommen, muss zunächst die Fragestellung, das heisst die Berechtigung oder die Notwendigkeit eines monistischen Wissenschaftsverständnisses herausgearbeitet werden, hier im Anschluss an das Zitat von v. Weizsäcker. Wenn nach einer Versöhnung von Religion und modernem Bewusstsein gefragt wird, so stellt sich die Frage, wer wen zu versöhnen hat. Von wem geht die Versöhnung aus, welche Versöhnung hat diese oder jene Seite anzubieten. Wenn sowohl Religion als auch modernes Bewusstsein sich radikal weiterentwickeln müssen, um der Versöhnung entgegenzuwachsen, so müssen beide Entwicklungen in untereinander versöhnbaren Versöhnungsmitteln gründen. Wie aber sollen beide Bewegungen sich in versöhnbare Versöhnungsmittel einstimmen können?

Daraus ergibt sich die Titelfrage dieses 1. Kapitels: Die Frage nach der Reichweite der Versöhnung. Nachdem im Folgenden c.) der Notwendigkeit einer Einheit der Versöhnung nachgegangen werden soll, möchte ich auch schon in diesem 1. Kapitel unter d.) die kantische Grundlage der verschiedenen in unserer Gesellschaft wirksamen Einsichtsweisen aufdecken, um von da aus in e.) Troxlers Anliegen, die Kritiken Kants zur Einheit und Ganzheit des Menschen hin zu vertiefen, in Grundrissen anzudeuten. Aus der oben bereits implizit vorausgesetzten Tatsache, dass sowohl das moderne Bewusstsein als auch die Religion in ein und demselben Versöhnungsanfang und -mittel anheben und sich entwickeln können müssen, wenn je eine Versöhnung von modernem Bewusstsein und Religion möglich werden soll, ergeben sich die Fragestellungen für das 2. und 3. Kapitel. Theologie und Weltwissenschaft müssen, je von ihrer Seite, sich auf die Reichweite ihres Versöhnungsmomentes besinnen.
Im 2. Kapitel: Der Christenmensch in der Wissenschaft oder die Reichweite der Versöhnung in der Lebenswirklichkeit des Laien möchte ich darum der biblischen Verheissung an das Gottesvolk und deren Neuinterpretation durch die Reformation nachgehen, um in der Frage nach dem Selbstverständnis des Laien die Reichweite der christlichen Versöhnung zu thematisieren. Das Kapitel lebt aus der Spannung theologischer Bestimmung des Laien von Seiten der «Gottesgelahrtheit» und der Laienpraxis des «Chiliasten» Troxler. Eine erste Begegnung mit Gedanken und Werk Troxlers soll deutlich machen, dass hier kein allgemein rezipierbares Laienchristentum vorgelebt wurde, sondern uns vielmehr eine wissenschaftlich durchdachte Realutopie vor Augen tritt, welche im Sinne der prophetischen Verheissungen uns die Vision eines kommenden Geistchristentums hoffnungsträchtig anschauen lässt.
Im 3. Kapitel: Die Wissenschaft im Christenmenschen oder der Typus der philosophischen Anthropologie soll von Seite der «Weltwissenschaft» das Versöhnungsmittel aufgewiesen werden, welches das 2. Kapitel von der Offenbarung her soweit der «Menschheit» zugestanden hat, dass die Philosophie in ihrer vertieften Kritik (die unter 1.e. angedeutet und in Kap. 4./5./6. ausgeführt wird) mit im Dienst des einen Versöhnungsanfanges sich begründet und bezogen wissen darf. Es soll dort der Hauptgedanke Troxlers, der Typus der philosophischen Anthropologie, so entfaltet werden, dass er, trotz desses Verflochtenheit mit der geistesgeschichtlichen Situation und den biographischen Momenten, als bleibendes, jeder Generation neu aufgegebenes Motiv aufscheinen kann, als ein Dienst am Versöhnungsanfang, den Christus mitten in unsere Welt gesetzt hat.
Das Kapitel soll ausmünden in die Konkretion des Typus der philosophischen Anthropologie, welchem Troxlers grösste Liebe galt: Die philosophische Enzyclopädie und Methodologie sämtlicher Universitätswissenschaften.

Alle drei der hier gestellten Fragen werden schliesslich auch im Hauptteil (Kp.4./5./6.) dieser Arbeit weiterentwickelt werden, dort aber stets in untrennbarer Verflochtenheit miteinander. Da Kant in Troxlers Werk die Hauptherausforderung darstellt und Kants Kritiken in vieler Hinsicht auch heute wieder die mehr oder weniger ausgesprochenen Grundlagen unserer Bildungskultur ausmachen, trifft oft die Stossrichtung, in welcher Troxler sein Anliegen entwickelt, in direkter Weise die gegenwärtige Situation heutiger Wissenschaft. Die Fragestellung und der Inhalt der Kapitel 4./5./6. ist ganz an den drei letzten Kapiteln von Troxlers Logik orientiert, in denen ich mir die »anscheinend» aller Wissenschaft zu Grunde liegende Christusreligion durch den Autor zeigen liess, um sie im Mitdenken am Ort ihrer Wirksamkeit aufzusuchen, zu beobachten, zu erfahren. Die unter Kapitel 4./5./6. vorgeführten Zusammenfassungen der unten in den Überschriften Troxlers angegebenen Kapitel, nannte ich ihrem Inhalt gemäss:

4. Kap. Die Einheit und Ganzheit des Menschen in der Wissenschaft
15.) Die Vernunft über der Wissenschaft, oder das selbstgewisse Bewusstsein des Geistes. Der Geistsinn und die ewigen innigsten Gemüthsideen.

5. Kap. Christusoffenbarung in der Wissenschaft
16.) Das Jenseits in der menschlichen Natur, und das wahrhaft übersinnliche Erkennen, oder die Mystik, der Logos und die Offenbarung.

6. Kap. Der Glaube in der Wissenschaft.
17.) Erkenntnis durch Zeugnis und Beifall, Autorität und Glaube; ihr Prinzip und Criterium.

Erst am Schluss dieser Arbeit möchte ich dann das im Anfangszitat Weizsäckers aufgestellte Anliegen im heutigen Kontext von Wissenschaft und Theologie umrisshaft einer Antwort entgegenzuführen suchen, um darin meinem Suchen nach einem festen Grund, dem tragenden Fels, für die theologische Ethik eine provisorische Gestalt zu geben. (noch ausstehend)
Die Arbeit ist getragen vom Glauben, im Mit- und Weiterdenken der philosophischen Antropologie Troxlers nicht nur die drei im Anfangszitat erwähnten Erkenntnisweisen auf ein zugleich religiös als auch wissenschaftlich zu bestimmendes und zu entfaltendes Grundvermögen im Menschen zurückführen zu können, sondern auch nachzuweisen und in die innere Erfahrung zu bringen, inwiefern und in welcher Weise die affektiven Wahrnehmungen (zu denen ich hier alles zähle, was der Menschen zwischen Sinnlichkeit und höchsten Tugenden, wie Glaube, Liebe und Hoffnungen nur irgendwie bewegt) in diesem so zentrierten und potenzierten philosophischen Bewusstsein eine Heimat finden – was im eigentlichsten Sinne das Programm von Troxlers Philosophie, vor allem der Logik ausmacht.

c. Die notwendige Einheit der Versöhnung

Wenn v.Weizsäcker in Erinnerung ruft, dass einst die Religion es war, die all den affektiven, wesentlich zum Menschen gehörigen Wahrnehmungen eine Heimat bot, und wenn er glaubt, dass sie es auch heute noch wäre, wenn sie mit dem modernen Bewusstsein versöhnt werden könnte, so ist damit der Religion wie der Wissenschaft eine klare Aufgabe zugewiesen: «Das moderne Bewusstsein müsste sich dazu nicht weniger radikal weiterentwickeln als die überlieferte Religion.» Wie und womit sollen die Entwicklungskriterien des modernen Bewusstseins gefunden werden und wie und woraus jene der überlieferten Religion? Wer soll hier wen versöhnen? Kennt diese Versöhnung zwei Anfänge, oder muss, was je versöhnt werden will nicht in der einen Versöhnung selbst sich der Versöhnung zuführen lassen, wenn sie zustande kommen soll?
Ist es die Religion, welche die Wissenschaften als die ihr vorzeiten entlaufenen «Untermägde» schliesslich als inzwischen «erwachsene» Frauen wieder aufzunehmen bereit ist, um ihnen jene Heimatlichkeit zu geben, die sie selbst nicht finden konnten als verlorene Töchter in der grossen Welt …? Oder wird diese Heimat ein Reich der Freiheit sein, in der das moderne Bewusstsein und damit jede Wissenschaft als volles Organ und lebendiges Erbe dieser Urheimat wird leben können? Die Fragestellung v. Weizsäckers ist insofern richtig gestellt, als sie von einem heute geschichtlich gewordenen Dualismus ausgeht. Das moderne Bewusstsein hat und ist, genau wie auch die Religion, ihr eigenes System, sowohl institutionell, als auch erkenntniskritisch im Menschen. Der äusserliche Anfang der Entwicklung hat je aus dem jeweiligen System hervorzugehen. Wo aber diese Anfänge der Versöhnungsbewegung gemacht werden in einem nicht im Humanum selbst begründeten, aufgefundenen und allgemein nachweisbaren Entwicklungsprinzip, sondern in Anlehnung an eine dogmatisch-positivistische Welt- oder Gottesgelehrsamkeit, werden sich die aus diesen Anfängen hervorgehenden Pflanzungen immer als einander fremde und widersprechende Systeme gegenüberstehen, und die Religion bleibt vom modernen Bewusstsein gesondert nicht nur im Bezug auf die je darin lebenden und arbeitenden Menschen, sondern auch in jedem Menschen selbst als ein ihn in allem begleitender Doppelanfang.

Wo also diese «verheissene» Heimatlichkeit nicht von beiden Systemen her im selben Anfang ihr Entwicklungsprinzip des Suchens und Findens zu begründen vermag, wird alle Reformation und Revolution der beiden Systeme bloss den alten Heteronomismus in und ausser dem Menschen weitervererben, und das moderne Bewusstsein wird immer der Religion und diese jenem die Heimatlichkeit streitig machen. Will das v. Weizsäckersche Unternehmen der radikalen Weiterentwicklung von Wissenschaft und Religion gelingen um der Kultur wieder eine einigende Heimat zu geben, so darf weder die Wissenschaft noch die Religion den Anspruch erheben, diese in ihrem positiven Bestand oder in ihren ewigen Anfängen eher zu haben als die andere Seite, um nach gehöriger Weiterentwicklung andere daran teilhaben zu lassen. Es könnte die Heimat oder die Einheit der beiden Sphären noch gar nicht konstruiert, begründet oder aufgefunden werden, wenn sie auf dieser oder jener Seite als höchstes Pachtgut verwahrt wäre. Vielmehr muss die Einheit und wahre Heimat immer schon in beiden Systemen liegen als deren tiefster Grund im Menschen und als der Mensch selbst in seiner relativen Gebrochenheit. In diesem gleichzeitig religiösen und philosophischen, Wissen und Glauben also nicht gegeneinander ausschliessenden Grund des Menschen müssten beide Systeme ihren Anfang der Weiterentwicklung aufsuchen und finden können – also in einer erkenntnistheoretischen Besinnung nicht bloss auf die Möglichkeit einer schon zum vornherein festgelegten und definierten Erkenntnis- oder Glaubensnatur von einem wissenschaftlichen und einem religiösen Positivismus her, sondern von einer konsequent sich anthropologisch-philosophisch nachweisbaren und erklärbaren Gründung her.

Im diskursiven Bewusstsein erscheint die zu suchende und zu entwickelnde Einheit und Heimat aber immer relativ entzweit, denn der Mensch ist geschichtlich in diese spannungsreiche Polarität von wissenschaftlicher Autonomie und religiöser Heteronomie so selbstverantwortlich eingebunden bei der Umwandlung der alten Heimatlichkeit in die neue, dass er zwar in der Einheit seiner Person sowohl im religiösen als auch im selbstbewusst-modernen System mitschafft, aber es erscheint dieses Mitschöpfertum im Selbstbewusstsein gebrochen in der Diastase von Glauben und Wissen. Das ist der bewusstlose, allseitig umwanderte und beschriebene Graben oder Dunkelraum, in welchem scheinbar alle Dualismen gründen müssen, solange die wahre Heimat noch nicht auf Erden offenbar geworden ist. Wie also soll so die Religion mit dem modernen Bewusstsein zusammen im gleichen und einen Anfang das Ziel ihrer Heimat suchen und finden können, solange sie den Anfang ihrer verheissenen Heimat noch nicht dem Menschen oder der Welt zutraut, solange sie den Anfänger des wahren Erbes bloss durch den Sprung ins Dunkle des Glaubens, theoretisch, ausser seiner selbst delegiert, um praktisch dann um so eifriger, vom unerkannten Geist getrieben, in den Kampf um die Heimatlichkeit sich «senden» zu lassen …?

Der Dualismus mag einen innern Sinn beim Übergang des Menschen vom vorwissenschaftlichen Bewusstsein zum freien und individuellen (erhalten) haben, der in den äusseren, sich seit dem Mittelalter ablösenden Kultursystemen bloss seine Entsprechung hat. Troxler konnte im Zusammenhang dieser, für die Emanzipation des Menschen nötigen Aufteilung der Erkenntnis von einem philosophischen Sündenfall