«Und das Wort ward Fleisch …» Das Wunder der menschlichen Sprache
Ich hätte die Überschrift dieses Textes auch so nennen können: «Die Magie der menschlichen Stimme …»
Ich beobachte in mir eine allmähliche Bekehrung von der Verehrung des Gedankens oder des Wortes hin zu einem tiefen Respekt gegenüber der gesprochenen Rede und den in uns bereiteten Mitteln von Stimme, Klang und Gesang. Zusammenhänge denken, erkennen, formulieren, aufschreiben und publizieren – das ist das eine. Viel herausfordernder, dem Wort angemessener und effektiver ist das gesprochene und gesungene Wort.
Das geschriebene Wort ist ein Kunstprodukt, eine Abstraktion des lebendigen Wortes, das durch den Menschen stets neu gegenwärtig und im sozialen Kontext verlebendigt und wirksam werden will. Das lebendige Wort hat eine Geschichte mit der Menschheit. Dazu einige Gedanken.
Herkunft: Aus dem Wort ist alles entstanden, was geworden ist, heisst es im 1. Kapitel des Johannesevangeliums in Anlehnung an den biblischen Schöpfungsbericht Genesis 1, wo Gott durch sein Sprechen die Welt erschafft. Das Wort, das im Anfang bei Gott war, ist Mensch geworden und kam in das Seine. Das Wort des Anfangs, das auf Gott hin ist, kommt uns nahe und will uns eingeboren werden. Das ist die Christusbotschaft des Johannesevangeliums. Da liegt das Wunder der menschlichen Stimme, von Sprache und Gesang. Das schöpferische Wort hat den ganzen Menschen mit Leib, Hirn, Kehlkopf, Atem, Stimme, musikalischen Sinn usw. geschaffen – und es kommt dieses Wort in das Seine. Zu allen Zeiten hat Gott sich in Sprache als das lebendige und schaffende Wort geoffenbart. Die Inder singen rhythmisch ihre Sutras, die Buddhisten chanten ihre Lehrtexte, die Juden rezitieren die Thora, Christen ihre Psalmen und liturgischen Texte, die Muslime beten Koranworte und finden darin Anteil an der Gabe Gottes, wie sie im Wort uns erfüllt und das Wort in das Seine findet.
Emanzipation: Über Jahrhunderte haben sich die Religionen an ihren Texten orientiert und darin Trost, Teilhabe und Erfüllung gesucht. Dieser Lobpreis Gottes durch die geoffenbarten Texte ist das bleibende Erbe der Religionen. Seit der Aufklärung bemächtigt sich der Mensch aber selber des Wortes und findet im autonomen Umgang damit ein starkes Mittel der Erkenntnis, der Entwicklung und der Umwandlung der Erde. Das säkulare Wort, das Gespräch, die Lehre, die Diskussion, die Debatte, der Vortrag, der Liebesantrag, … usw. – all das ist Menschenwerk, und doch vollbringt der Mensche dieses autonome Werk nur darum, weil ihm das Wort gegeben ist – das Wort des Anfangs, das Prinzipium, das in die Welt kommt als das A und O, das mit uns ist bis ans Ende der Welt. Heute gilt es, diese Gegebenheit des Wortes im säkularen Wort wieder zu finden und diesem Wort, darin wir uns als eigene Person finden und wandeln, Respekt, Dankbarkeit und Verehrung entgegen zu bringen. Darin spricht Gott uns an, er ruft uns und gibt sich darin in seiner Fülle, die noch werden soll.
Die Magie des Wortes : Wir haben die Improvisation längst gelernt, wir pflegen sie in jedem Gespräch: Wir hören zu und finden in der Antwort nie dagewesene Aussagen. In diesem freien und autonomen Umgang mit dem Wort steckt der Keim zur Inspiration. Der Geist kann darin auffunkeln, unser Gespräch klar und scharf machen wie ein Schwert oder warm und innig wie die Sonne. Achten wir im Gespräch auch auf den Tonus der Stimme, so vernehmen wir die eigene seelische Befindlichkeit oder jene unseres Gegenübers. Die Stimme ist verhalten, suchend, dumpf, unsicher, oder sie wird erregt, laut, kräftig, bestimmt und klingend. Sprechend kommunizieren und improvisieren wir nicht nur Gedanken, sondern empfundene Zusammenhänge, seelische Qualitäten und Situationen. Und mit der Aussprache wird auch ein Wille manifest. Der ganze Mensch wird durch die Sprache vernehmbar. Wir bespielen sprechend das vollkommenste Instrument – den Menschen – auf all seinen Seiten. Das Wort wird Gefäss des Gedankens, des Fühlens, des Wollens. Das Wort ist ein Medium, das alles aufnehmen kann, was im Menschen ist, nichts bleibt ihm fremd. Der Mensch ist das Seine. Im Wort improvisieren wir uns selbst in die Welt hinein. Wir machen uns im Wort zu eigen, was die Welt uns gibt, und wir geben der Welt das Ihre zurück, verwandelt durch unser Wort, wie es uns gegeben wird.
Hier beginnt der Übergang vom staunenden, dankbaren sich Beugen vor dem Wunder des Wortes hin zur erschreckenden Verantwortung angesichts der Gabe des Wunders Wort. Hier beginnen wir die «Magie des Wortes» zu entdecken. Im Wort sind wir die Magier auf Erden, denen die Herrschaft anvertraut worden ist. Der Mensch ist Kraft des Wortes Sachwalter Gottes auf Erden. Es sind die übeln Worte, die von uns ausgehen, welche uns verunreinigen und die Welt schädigen. Und es sind die guten Worte, die von uns ausgehen, welche uns reinigen und die Welt heiler machen.
Unabhängig von diesem moralischen Aspekt kann die Magie des Wortes erkundet und entdeckt werden: als eine Gabe Gottes, die uns in unserer Leiblichkeit gegeben ist und durch unser Sprechen Anschluss findet an die kommende Welt, an das, was bereitet ist und durch uns werden kann, werden soll.
Improvisation und Gestaltung:
Während die Religionen ihr Erbe der «heiligen Rezitation» immer mehr vernachlässigen und damit die alte Magie des Wortes verlieren, entfaltet sich in der Kunstszene, in der freien Kultur, die neue Magie des Wortes, die freie, aus dem Individuum geschöpfte Wortkultur – zwar oft unbändig, abgerungen und vermischt mit Elementen einer scheinbar «gottlosen» Geste – aber die Effektivität, die Macht und Kraft des Wortes bricht sich seine Bahn, sucht sich seine Wege. Ich finde bei der Slamerszene, im Rapp und im Theater Anklänge an diese Magie des Wortes, die Neuentdeckung der improvisierten Wortgestaltung. Und in der Auslotung aller Möglichkeiten der Stimme in Jazz und in der Weltmusik. Der traditionelle Gesang wird ergänzt durch die Nutzung der umfassenden Klangmittel der Stimme, teils im Anklang an das Erbe alter Kulturen, teils völlig neu erfunden.
Das ist die Welt, in die ich mich derzeit einhöre und einlebe. Ich ertaste in eigenen Versuchen daheim oder unterwegs im Wald diese Gestaltungsmittel.
Mal sehen, wohin die Entwicklung geht. Ich will nicht primär der Denker sein, sondern ein Rhetor werden, ein Magier des Wortes, zu dem wir alle berufen sind. (Gründonnerstag, 5. April 2007, über Mittag)
|